Gleichgewicht, Wind und Geschichte am See, der den versunkenen Kirchturm hütet.
Nachdem wir die senkrechte Staumauer des Zufrittsees erklommen haben, ist es Zeit für eine neue Perspektive: Diesmal bewegen wir uns auf dem Wasser zwischen Himmel und Bergen und erleben ein Abenteuer, das nach Freiheit und Legende riecht.
Wir sind im Obervinschgau, an der Grenze zu Österreich und zur Schweiz. Hier bewahrt der Reschensee eines der bekanntesten Bilder Südtirols: den versunkenen Kirchturm von Graun. Gleichzeitig speist er zwei der wichtigsten Wasserkraftwerke von Alperia – Glurns und Kastelbell.
Auf dem Reschensee: zwischen Kajak, Segeln und Geschichte
Am besten erkundet man den Reschensee vom Wasser aus. Im Sommer wird er zum Paradies für alle Paddelfreunde, sei es zum Kajakfahren oder Stehpaddeln. Der ideale Ausgangspunkt ist Graun, von wo aus man in Kürze den Kirchturm erreichen kann. Die Stille wird nur vom Plätschern des Wassers am Bug des Kajaks oder des Boards unterbrochen. Rundherum spiegeln sich die Berge im Wasser und erinnern daran, dass hier, auf 1.498 Metern Höhe, die Natur ihrem Rhythmus folgt, angetrieben vom Wind.
An Sommertagen verwandelt der Thermikwind ab dem späten Vormittag den See in ein Eldorado für Segler, Windsurfer und Kitesurfer. Seit einigen Jahren finden hier auch Regatten statt – die wichtigste ist die Turmregatta am Reschensee.
Ein ganz besonderes Erlebnis bietet die Fahrt mit der MS Hubertus Interregio, einem historischen Schiff aus dem Jahr 1931, in Bayern erbaut, heute ein Symbol des Reschensees. Von berühmten versunkenen Glockenturm aus kann man über den See segeln und dabei Geschichten über die versunkenen Dörfer Graun und Reschen hören.
Die Staumauer von St. Valentin und die Kraftwerke Glurns und Kastelbell
Mit seinen 6,6 km² und 120 Millionen Kubikmetern Wasser ist der Reschensee der größte künstliche Stausee Südtirols. Entstanden ist er in den 1950er-Jahren durch die Vereinigung von zwei natürlichen Seen. Im Zentrum dieser Verwandlung steht der Staudamm von St. Valentin auf der Haide – ein 31 Meter hoher und 467 Meter langer Erdwall, einer der beeindruckendsten seiner Art in der Region.
Dieser Damm reguliert nicht nur das Wasser des Sees, sondern ist auch das Herzstück eines hochmodernen Wasserkraftwerks. Das Wasser wird über einen 13 Kilometer langen Druckstollen und eine 883 Meter lange Druckrohrleitung geführt – mit einem Fall von 586 Metern, bevor es das Kraftwerk Glurns erreicht.
Das Wasserkraftwerk Glurns, zwischen Schluderns und Tartsch, bildet den ersten Fall der Konzession „Reschenseen“ und erzeugt bis zu 237 Millionen kWh pro Jahr – genug, um rund 79.000 Haushalte zu versorgen. Es wird hauptsächlich zur Deckung von Energiespitzen eingesetzt. Im Gegensatz dazu läuft das nahegelegene Wasserkraftwerk Kastelbell als Laufwasserkraftwerk kontinuierlich – mit einer deutlich höheren Jahresproduktion von 396 Millionen kWh.
Eine Landschaft voller Geschichten
Mit dem Staudamm von St. Valentin wurden zwei bestehende Seen verbunden – eine Veränderung, die das Gebiet radikal prägte. Die Dörfer Graun und Reschen mussten weichen und wurden weiter oben neu aufgebaut. Zurück blieb als sichtbares Symbol der romanische Kirchturm von Graun, der heute aus dem Wasser ragt – ein stiller Zeuge von Vergangenheit und Wandel.
Seine Präsenz erinnert daran: Jede Transformation bringt neue Chancen, aber auch neue Verantwortung mit sich.
Energie, die sich widerspiegelt
Beim Paddeln auf dem Reschensee wird eines klar: Wasser kann so vieles sein. Emotionen, Geschichte, Spiegelbild. Aber auch eine Quelle des Lebens und der Energie, wenn es klug genutzt wird.
Und genau das wollen wir mit unserer Reihe „Auf den Damm gekommen” zeigen: Das Zusammenspiel von Natur und Technik, Staunen und Ingenieurskunst, Sport und Nachhaltigkeit.